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Als der große Renaissancemaler und Erfinder der wissenschaftlichen Perspektive Piero della Francescazwischen 1460 und 1475 die verschiedenen Blaus seiner Palette im Bild studieren wollte, hatte er nicht jene Freiheit wie die Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts. Piero della Francesca mußte mit seinem Auftraggeber sprechen, er brauchte seine Zustimmung, um das Thema der Geburt Christi (London, National Gallery) zu illustrieren. Er benötigte auch die prinzipielle Akzeptanz zum Konzept dieses Bildes, das mit seiner klaren Perspektive und kristallinen Farben zu den Meisterwerken der Renaissancekunst zählt. Es ist ein eindrucksvolles Bild. Piero brauchte aber auch einen Gegenstand, eine festgelegte, abgesprochene Ikonographie, mit der er die verschiedenen Blautöne entwickeln konnte. Seine Wahl fiel, ganz in der Farbtradition der christlichen Malerei, auf die die Geburtsszene begleitenden Engel. Nicht zufällig also wählt Tinka von Hasselbach den sogenannten Renaissancesaal zur Präsentation ihres blauen Quartetts. Sie diskutiert mit den südlichen Erfahrungen Italiens als Malerin des Nordens in einem nordischen Renaissancesaal auf gleicher Augenhöhe mit dem historischen Ort.
Dieses Bild ist ein großes Erinnerungsfeld für Tinka von Hasselbach. Das zweite Erinnerungsfeld ist die Natur, nicht die Kunstgeschichte; kein zeitgebundenes Bild mit überragenden Energien bis heute, sondern eine fast alltägliche Naturerfahrung: der Blick von einem höher gelegenen Haus auf den Lago Maggiore. Das Blau fasziniert, die natürlichen Oberflächen ebenso. Skizzen entstehen, Fotografien begleiten wie Dokumente die entstehenden Bilder.
In den Bildern von Tinka von Hasselbach kristallisieren und verdichten sich diese Erfahrungen von Kunstgeschichte mit den Erfahrungen der Natur; von der Irdigkeit in der Malerei des Piero und seiner Einbindung in die Wirklichkeit der Welt (ohne Goldgrund z.B., ohne irgendwelche Erhöhungen) und den Erfahrungen der Natur des Wassers, in dem sich der Himmel spiegelt. Der Himmel bewirkt das Blau.
Diese beiden wichtigen Erfahrungsfelder dokumentieren, daß die nicht gegenständliche Malerei der Künstlerin voller Erinnerungen ist, vollgesaugt ist mit vorher Gesehenem, Erfahrenem, Gefühltem und Erarbeitetem. Das Quartett „Lago“ (See) verwirklicht eine lange malerische Erfahrung. Das Abbild der Welt, sei es Malerei oder Natur, ist auch dort wiederzufinden, wo ohne rituelle Bindungund ohne lokale Verortung in einem langsamen Malprozeß Schicht auf Schicht nicht nur farbige Erinnerungen in das Bild hineingetragen werden. Das Gedächtnis der eigenen biografischen Situation wird mit formuliert.
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Diese Eigenschaften finden wir auch in den vulkanischen Bildern wieder. Tinka von Hasselbach betreibt das Malen langsamer Bilder. Sie verlangt von dem Betrachter, daß er seine Routine in der Erfahrungen mit schnellen visuellen Informationen aufgibt und ebenso wie die Malerein eintaucht in die Vergangenheit des Gesehenen, das aber auf der Bildfläche aktuell neu formuliert wird. Tinka von Hasselbach gibt den Bildern eine neue, starke Präsenz. Sie vermittelt „haptische“ Optionen des reinen Sehens.
Ihre Bilder stehen wie Weltbilder für die Ganzheitlichkeit unserer Existenz, obwohl sie sich auf Details im eigenen Erfahrungsschatz beziehen. Doch als abstrakte Weltbilder nehmen sie zugleich die große Tradition wieder auf, die Romantik der Weltsicht, so wie wir sie bei vielen Malern der Romantik kennengelernt haben. Die Bilder führen nicht die harte Sprache der Züricher Konstruktivisten, sie sind nicht theoriegebunden, deshalb sind sie auch nicht beliebig fortsetzbar. Sie sind Handwerk und Vision zugleich, Bindung an das eigene Ego und Anbindung an das Erfahrene der äußeren Welt. Diese Dialektik zwingt den Betrachter zu einer sehr meditativen Auseinandersetzung, deren Ergebnis sich dann „rechnet“, wenn der Betrachter des Bildes bereit ist seinen Zeithaushalt auf die Vorgaben der Bilder auszurichten. Er braucht Ruhe, denn die Bilder strahlen Ewigkeit aus, er braucht die Verortung vor den Bildern, denn diese vermitteln die Geborgenheit der Erfahrung, er muß sein eigenen Gedächtnis nutzen, denn die Bilder führen in die Zukunft.
In der Stadt des Bonifazius mit seinen großartigen Kunstwerken, auch den vielen blauen Scheiben inden Glasfenstern des Domchores, ist Blau eine wichtige Farbe. In Erfurt als reicher Handelsmetropole war bis zum 16. Jahrhundert das primäre Handelsgut die Blaufarbenpflanze, der Waid. Diese Handelsware sicherte den materiellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Reichtum. Mit „Lago“ nimmt die Künstlerin wissentlich oder unwissentlich diese Diskussion mit den großen Renaissancebauwerken in Erfurt wieder auf; ebenso führt sie auf Distanz einen Dialog mit Jürgen Partenheimers blauer Weltachse im neuen Bundesarbeitsgericht hinter dem Domberg. Die Gegenwart, das beweisen die Bilder von Tinka von Hasselbach, rechtfertigt sich aus der Vergangenheit,wenn sie diese zeitgenössisch interpretiert. Die Bilder Tinka von Hasselbach sind ein lebendiger Beweis für die These, daß das Morgen im Gestern wurzelt.
Dieter Ronte, Bonn, Juni 2004
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